Ghostcity – eine Heimsuchung

 

Mit «Ghostcity» hat der Figurentheaterspieler Marius Kob ein begehbares Modell einer trostlos verlassenen Trabantenstadt geschaffen. Wie geisterhafte Touristen wandeln die Betrachter durch diese Plattenbaulandschaft und suchen selbst nach einer Geschichte.


Von Sarah Leonor Müller 
 

Es gibt Angenehmeres, als spät nachts allein in einer fremden Vorstadt anzukommen. Man irrt durch schwach beleuchtete Strassen und sucht nach einem Unterschlupf oder einer wohlgesinnten Menschenseele. Die Einsamkeit schärft einem dabei regelrecht die Sinne: Jedes Geräusch wird hörbar und was man nicht sieht, das erahnt man.

Solchen Eindrücken überlässt auch Marius Kob die Zuschauer in seiner installativen Performance «Ghostcity». Auf 15 mal 15 Quadratmetern hat er eine sozialistische Reissbrettsiedlung aus Wellkarton nachgestellt. Die erste halbe Stunde bewegen sich die Theaterbesucher selber im Dunkeln durch ein rätselhaft karges Puppenstuben-Szenario. Angelockt von Geräuschen oder kleinen Lichtquellen nähert man sich den einzelnen Kartonhäusern und blickt zunächst etwas zaghaft hinein. Es riecht darin nach Karton und mal sogar ein bisschen nach Urin. Die Gebäude sind verlassen. Irgendwo klafft entlang einer Innenwand ein leerer Liftschacht wie eine zwei Meter lange Narbe. Die ehemaligen Stockwerke liegen in Trümmern am Boden. Menschliches Leben manifestiert sich lediglich als eine Spur von zurückgebliebenen Alltagsgegenständen und mehr oder weniger sinnvollen Aufschriften wie «AC/DC» oder «Geh niemals mit Punks bei Gewitter schwimmen!».

Nichtsdestotrotz ist die Stadt gespenstisch belebt. In einem Fenster auf Nabelhöhe brennt Licht: Der voyeuristische Blick fällt in ein braungrün gekacheltes Bad mit einer Toilette. Plötzlich hört man hier die Toilettenspülung, darauf im Nachbarblock das Quietschen von kleinen Haustieren und weit weg schrille Kinderstimmen.

 

Da ist niemand
Kobs Installation ist raffiniert in seinem Spiel mit verschiedenen Sichtebenen und Perspektiven. So gibt es nebst der Aussicht durch Raumfluchten auch einzelne Standpunkte, von wo aus die ganze Stadt hinter einer einzigen Wand zum Verschwinden gebracht wird. Belebt werden diese Räumlichkeiten durch eine hervorragend konzipierte Geräuschkulisse (Leo Hofmann), die in diesem Stadtraum den Eindruck von geisterhafter Anwesenheit schafft. Der wachsende Lärm eines sich nähernden Motorrads etwa lässt den Besucher unvermittelt innehalten. Am eingehendsten sind allerdings die Stimmen und Gesprächsfetzen, die sich aus den Gebäuden vernehmen lassen. Sie lassen aufhorchen und um sich blicken. Doch da ist niemand. Paradoxerweise ist jedoch die ganze Bühne bevölkert. Es sind die Betrachter selbst, die sich inmitten dieser Ruinen durch unzählige Fensterausschnitte stumm anschauen.

 

Leben in der Wohnmaschine
In einem zweiten Teil übernehmen die drei Figurenspieler Kob, Pauline Drüner und Lena Kiessling die weitere Regie. Mit Taschenlampen beleuchten sie wortlos die kleinen, bisher unbemerkten Details. Eine kleine Strickleiter, ein einzelner roter Kinderstiefel oder ein geköpfter Teddybär werden im Lichtkegel als ultimative Beweisstücke menschlichen Lebens sichtbar. Was wie eine nostalgische Suche beginnt, entwickelt sich zu einer Präsentation von Alltagsausschnitten einer eng zusammengepferchten Wohnblockgesellschaft. An dieser Stelle wagt die Inszenierung quasi einen Zeitsprung indie Vergangenheit. Die Figurenspieler leuchten mit ihren Lampen in verschiedene Wohnungen und Zimmer. Darauf werden Geräusche und Gesprächsfetzen hörbar. Wird in einem Stock heftig gestritten, so wird im anderen ausgiebig geliebt. In einem Zimmer wird Geige geübt, im anderen pubertär-depressiv auf einer Gitarre geklimpert. «Wir möchten, dass du ausziehst», fordert eine Frauenstimme plötzlich sachlich. Den Gesprächen fehlt der Kontext, und als Zuschauer ist man überfordert. «Wenn man nichts weiss, wird die Phantasie aktiviert», sagt eine Männerstimme unerwartet sehr passend. Die Geschichte liegt buchstäblich unter Trümmern begraben, und es ist dem Zuschauer selbst überlassen, sie nach seiner Vorstellung zu rekonstruieren.

 

Sehnsucht nach Heimat
Trotz einer tendenziell bedrückenden Grundstimmung, ist dieses interaktive Stück von einer eigentümlichen Sehnsucht beseelt. War es zu Anfang eine Suche nach Lebenszeichen, vielleicht eine Art Nostalgie, zeigt sich nun in den Erzählungen und Erinnerungen der Stadtbewohner selbst eine Sehnsucht nach Reisen, Aufenthalten in der Natur und nach heimatlichem Idyll. Passend zu diesen heimatliebenden und fernwehschwangeren Betrachtungen erklingt romantisch eine Jagdhornmelodie. Die Projektion eines Schiffes gleitet gleichsam wie das Gespenst der Sehnsucht über die leeren Häuserwände, um schliesslich wie ein Dia auf eine Zimmerwand gebannt zu werden. «Ghostcity» gräbt nach Heimat, untergräbt diesen Begriff aber auch und lässt ihn mitnichten auf ein kitschiges Dia reduzieren. Weniger manifestiert sich Heimat als ein Ort, als vielmehr als Riss: «Wo mein Zuhause ist? Da, wo ich in meiner Muttersprache fluchen kann.»