Wer ist hier der König?


Der Klassiker „King Lear“ dient zurzeit als Inspiration für verschiedene Projekte junger Theatergruppen. Die Inszenierung von Luise Voigt an den Treibstoff Theatertagen thematisiert die Rolle der medialen Repräsentation für die Verkörperung von Machtpositionen.


Von Adrian Wettstein


Politischen Einfluss haben in der heutigen medienzentrierten Gesellschaft diejenigen Köpfe, die einprägsam über unsere zahlreichen Bildschirme flimmern. Luise Voigts moderne „King Lear“-Adaption veranschaulicht dies eindrücklich, indem sie die Herrschafts-Rolle des Königs zuerst durch Podest, effektvolle Beleuchtung und Live-Kamera auf der Bühne konstruieren lässt. Die dafür notwendigen Laptops, Mischpulte und alle anderen technischen Geräte werden durch Lears Töchter bedient. Dabei wird schnell klar, dass Lear seine Rolle im Mittelpunkt des Polit-Schauspiels ohne die technische Unterstützung der drei jungen Frauen nicht aufrecht erhalten kann. Durch diese Abhängigkeit des Königs wird in Frage gestellt, wie es um die Handlungsfreiheit des Regenten bestellt ist: Lenkt er tatsächlich die Schalthebel der Macht oder wird er vielmehr von den ihn umschlingenden Fernsehkabeln gesteuert wie eine Marionette? Dieses einprägsame Bühnenbild wird in einen realen politischen Kontext gestellt, indem im Hintergrund authentische Tonaufnahmen Ceaucescus und anderer gefallener Herrscherpersönlichkeiten zu hören sind.


In Shakespeares Stück versinkt der mächtige König Lear allmählich in Bedeutungslosigkeit, Alter und Wahnsinn. Auch in „Exit Lear“ ist die zu Beginn mühevoll aufgebaute Machtposition Lears dem Verfall gewidmet. Ein gewaltiger Sturm zieht auf, die bisherige Ordnung gerät aus den Fugen. Während Lear im Original durch die englische Heide irrt und derweil die gesamte Natur in Aufruhr gerät, wütet in Voigts Inszenierung konsequenterweise ein künstlicher Sturm aus Lautsprecher-Lärm und Bildschirmflackern. Heutige revolutionäre Umstürze werden eben mithilfe von MacBooks und Digicams durchgeführt. Nach dem Unwetter findet sich der einstige Held verwirrt auf einer zweiten Bühne wieder, seiner königlichen Rolle enthoben und halb-nackt. Nicht nur die Bühne, auch der Zuschauerraum ist an diesem Theaterabend zweigeteilt, so dass die beiden Zuschauer-Gruppen das Geschehen aus unterschiedlicher Perspektive mitverfolgen. Vorne auf der Bühne verkörpern die vier jungen Darsteller repräsentative Figuren, im hinteren Teil des Raums sind sie ihrer Rolle entblösst. Die Technikerinnen, die Lear auf der Bühne ins Rampenlicht gehievt haben, korrigieren sein öffentliche Bild im Verlauf des Abends wieder, indem sie den Zuschauern vertraulich zuflüstern, dass der Schauspieler als Privatperson bloss ein egozentrischer, langweiliger Durchschnittsmensch mit Mundgeruch sei.


Die Giessener Gruppe aus Klang-, Video-, und Performancekünstlern hat Shakespeares Klassiker unter der Regie von Luise Voigt originell und eigenwillig adaptiert. Ihre Bearbeitung geht mit dem Text ziemlich frei um und lässt viele Figuren und Handlungsstränge des Originals weg. Die ausgereifte Dramaturgie fokussiert sich ganz auf das Spannungsfeld zwischen der repräsentativen medialen Verkörperung des Königs und dem entkleideten, unspektakulären Körper eines durchschnittlichen Menschen. Die vielen technischen Gerätschaften spielen im Stück eine wichtige Rolle, ohne dass damit überflüssige Effekthascherei betrieben würde. Es ist in der Logik dieser Inszenierung nur folgerichtig, dass nach dem Sturm die drei Technikerinnen die Herrschaft an sich reissen. Diese Machtübernahme der jungen Frauen leitet aber keine positive Wende ein: schon bald leiern auch sie nur dieselben althergebrachten leeren Politiker-Floskeln herunter. Einen optimistischeren Ausweg deutet zum Schluss immerhin der halbnackte, entmachtete Lear an. Er gibt zu bedenken, dass es nicht bloss die Techniker sind, die den Mächtigen zur ihrer Position verhelfen, sondern auch das stille Theater- und Fernsehpublikum, das diesen repräsentativen Verkörperungen Gehör schenkt. Wenn alle mithelfen würden, so deutet er am Schluss eine utopische Vision an, könnte man zu einem Umgang miteinander finden, bei dem solche Rollen entlarvt und hinter sich gelassen würden. „Exit Lear“ gelingt damit nicht nur eine erfrischende Umsetzung des Shakespeare-Klassikers, sondern auch eine anspruchsvolle Reflexion über ganz aktuelle politische Belange.